Meine Tochter ist 4 Jahre alt und hat viel Freude am Radfahren. Letzte
Woche waren wir im Park und plötzlich war Marie verschwunden. Sie weiß ganz genau, dass sie nicht so weit wegfahren soll. Als sie zurückkam, war sie ganz vergnügt und hat von einem Hund erzählt, hinter dem sie hergefahren ist. Ich war so wütend, dass ich sie sehr ausgeschimpft habe – zur Strafe durfte Marie dann abends kein Fernsehen schauen.
Marie war völlig aufgelöst und verstand überhaupt nicht, warum sie etwas falsch gemacht hatte. Meine Freundin war bei dem Ausflug dabei und meinte danach, ich hätte völlig überreagiert.
Was denken Sie darüber?
Wie schön, dass ihrer Tochter Fahrrad fahren und draußen sein so viel Spaß macht. Und wie schön, dass Sie als Mutter einen Ausflug mit Ihrer Tochter machen.
Beim Lesen Ihrer Frage hatte ich selbst einige Fragen: wie gut war vorab besprochen, wie weit Marie sich von Ihnen entfernen darf? Mit vier Jahren ist ein Kind nicht verkehrssicher unterwegs. Entfernungen, Geschwindigkeiten, Gefahrensituationen kann Marie noch nicht ausreichend einschätzen.
Vierjährige sind spontan und leben im Augenblick: ich kann mir gut vorstellen, dass Ihre Tochter plötzlich den Hund entdeckt hat und hinterhergefahren ist. Sicher ein schönes Erlebnis für das Kind. Die Entfernung, die dadurch zu Ihnen entstand, hatte sie in diesem Moment wahrscheinlich gar nicht im Blick. Kinder sind oft sehr in ihr Tun und in den Moment vertieft – übrigens eine sehr schöne Fähigkeit, finde ich. Überlegungen wie „Sieht mich meine Mutter noch?“ kann man von ihnen schlicht nicht erwarten.
Ich selbst habe als Kind habe im Urlaub mit meinen Eltern an der Ostsee begeistert Muscheln gesammelt. Und immer warf ich meinen Eltern vor, dass sie in der Zwischenzeit den Strandkorb verschoben hatten. Rückblickend weiß ich, dass ich wohl beim Suchen immer weiter am Strand weg vom Strandkorb gegangen war. Vielleicht erinnern Sie sich selbst an solche Erfahrungen als Kind.
Aus Sicht Maries waren vermutlich Sie diejenige, die „plötzlich verschwunden“ war, und um so fröhlicher war ihre Tochter, als sie plötzlich aufgetaucht sind.
Als Mutter oder Vater erschrickt man natürlich sehr, wenn das Kind plötzlich weg ist. Alle, die Kinder haben, kennen das Gefühl der Panik in diesem Moment: „Hoffentlich ist nichts passiert!“
Viele Eltern reagieren, wenn das Kind wieder da ist, spontan mit Ärger und Schimpfen. Die Gefühle von Angst und Erschrecken werden meist nicht gezeigt. Dabei wäre der Satz „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“ für das Kind so wichtig: Wenn ich einfach weg bin und Mama und Papa nicht wissen, wo ich bin, machen sie sich Sorgen. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Lernerfahrung für Kinder. Eltern helfen ihren Kindern übrigens durch solche Botschaften auch Empathie zu lernen.
Eine Strafe passt für mich an dieser Stelle überhaupt nicht – wobei ich Strafen allgemein in der Erziehung nicht sinnvoll finde –, weil Marie ganz kindgemäß und unbekümmert gehandelt hat und nicht in böser Absicht.
Abgesehen davon ist die Konsequenz auch unlogisch: was hat Fernsehen mit Fahrrad fahren zu tun?
Jetzt war Ihre Frage, inwieweit Sie überreagiert haben?
Ihr Schimpfen war Ausdruck Ihrer Sorgen um Marie – und so reagieren ganz viele Eltern in dieser Situation.
Diese Sorge wurde durch das Schimpfen und die Strafe gar nicht thematisiert und für Marie auch nicht klar. Dies zeigt auch die Verwirrung, mit der Marie auf Sie reagierte. Vor lauter Stress konnten Sie der Erleichterung über das Wiederfinden keinen Raum geben.
Wie gut, dass Kinder viel Verständnis für Ihre Eltern haben: Besprechen Sie doch im Nachhinein mit Marie, wie aufgeregt Sie damals im Park waren, und dass Sie so geschimpft haben, weil Sie Angst gehabt hatten.
Vor dem nächsten Ausflug in den Park können Sie gemeinsam besprechen, dass Marie zum Beispiel nie weiter als bis zum nächsten oder übernächsten Laternenpfahl fährt, weil Sie sich sonst Sorgen machen.
Bild von: Manfred Zimmer_Pixabay