Schulwahl: Komplexer als man denkt

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Welche Schule ist die beste für mein Kind? Das fragen sich jedes Jahr Tausende von Eltern, deren Kinder im Herbst an eine weiterführende Schule wechseln sollen. Die Schulnoten sind nicht der einzige Maßstab. Welche Faktoren darüber hinaus berücksichtigt werden sollten, darüber hat unsere Redakteurin Almut Grote mit Dr. Selina Weiss gesprochen, die an der Universität Ulm zu kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeit sowie der Testentwicklung forscht.

Wie wichtig ist der viel zitierte Intelligenzquotient (IQ) für die Entscheidung, an welche Schule ein Kind wechseln sollte?
Dr. Selina Weiss: . Grundsätzlich hat der IQ, im herkömmlichen Sinne verstanden, mit die höchste Vorhersagekraft für Schulerfolg – weil man in IQ-Tests Fähigkeiten wie das logische Schließen erfasst, die unter anderem wichtig für ein akademisches Weiterkommen sind. Aber der IQ allein reicht nicht aus, um mit Sicherheit vorherzusagen, auf welcher Schule ein Kind gut aufgehoben ist. So kann beispielsweise ein Kind mit niedrigeren kognitiven Fähigkeiten, aber einer überdurchschnittlich hohen Lern- und Leistungsmotivation zusammen mit einer hohen Gewissenhaftigkeit sehr gut auf einem Gymnasium aufgehoben sein. Ein Kind, das sehr sportlich interessiert ist und dessen Fokus mehr auf den Sport als auf dem Lernen aus eigener Motivation liegt, kann trotz hoher kognitiver Fähigkeiten besser auf einer Realschule aufgehoben sein.

Ist das Gymnasium die Schule, an der man am liebsten aufgehoben sein möchte?
Nein, das Gymnasium nicht automatisch erstrebenswert. Wichtig ist, dass die Passung zum Kind stimmt, damit das Kind bestmöglich gefördert wird. Ich habe zum Beispiel einen Kollegen hier an der Uni, der gerade seine Promotion mit Bravour abschließt, und er hatte zuerst die Realschule abgeschlossen und dann Abitur und Studium angeschlossen. Die Frage ist: Wo kann das Kind sein Potential am meisten ausschöpfen? Ein Gymnasium kann mit einem hohen Leistungsdruck einhergehen, was durchaus eine gewisse psychische Widerstandskraft (Resilienz) erfordert, die nicht jedes Kind gleichermaßen besitzt. Auch bei geringer Lernmotivation oder einem geringen schulischen Selbstkonzept kann es sein Potential besser ausschöpfen und dabei psychisch gesünder bleiben, wenn es an eine Realschule oder Hauptschule geht.

Sie haben schon zweimal die „Gewissenhaftigkeit“ erwähnt. Was genau ist damit gemeint?
Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin, Besonnenheit, Leistungsstreben, Perfektionismus. Das ist neben der kognitiven Leistungsfähigkeit ein weiterer Faktor für eine erfolgreiche Schullaufbahn und einen guten Abschluss an jeder Schulart.

Oft ist zu hören, Haupt- und Realschule seien die Schularten für Kinder „mit eher praktischer Begabung.“ Stimmt das?
In allen Schularten gibt es feste Lehrpläne mit vorgegebenem Wissen, das vermittelt werden soll. Im Prinzip unterscheiden sie sich vor allem in der Menge und Tiefe des Lernstoffs. Im Grunde genommen geht es um Wissensvermittlung und wie viele Fähigkeiten das Kind mitbringen, dieses Wissen zu erlernen und zu erweitern.

Ist das mit der „praktischen Begabung“ dann eher eine scheinbar tröstliche Umschreibung für „zu mehr hat’s halt nicht gereicht“?
Es ist kein Defizit, eine durchschnittliche kognitive Leistungsfähigkeit zu haben und/oder mehr praktisch interessiert zu sein. Kinder, die sehr interessiert sind, Wissen aufzubauen, sind vielleicht an einem Gymnasium besser aufgehoben, während Kinder, die Pauken nicht so toll finden und Erkenntnisse am liebsten sofort umsetzen möchten, besser an die Real- oder Hauptschule passen.
Ganz wichtig: Es gibt nicht DIE ein oder zwei

Kriterien, an denen man eine Schuleignung festmachen könnte. Es ist eine Summe von Faktoren, die ein Kind für die eine oder andere Schule besser passend machen.

Was für Faktoren sind das?
Das sind beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften – die „Big Five“*, die Lern- und Leistungsmotivation, aber auch der sozio-ökonomische Hintergrund, also: wie gut kann das Umfeld das Kind unterstützen? Sicher spielen auch noch andere Faktoren mit hinein, die aber schwer wissenschaftlich zu erfassen sind. Emotionale Intelligenz beispielsweise ist (nach momentanem Stand der Forschung) schwierig abzubilden. Emotionen bei anderen zu erkennen, die eigenen Emotionen zu regulieren mag für die schulische Laufbahn durchaus Wert haben, das ist aber noch nicht gut erforscht, weil es schwierig ist, Emotionen zu messen.
Seltener wird auch das schulische Selbstkonzept geprüft: Was denken die Kinder über ihre eigenen Fähigkeiten? Der IQ kann noch so hoch sein, wenn das Kind sagt, ich kann kein Mathe, und sich somit der Mathematik versperrt, dann wird es unter Umständen trotzdem Fünfer schreiben.

Kann man auch messen, für welche künftigen beruflichen Bereiche die Persönlichkeit des Kindes sich besonders gut eignet, um daran die Schulwahl festzumachen?
Es gibt schon Ansätze, verschiedene Interessen greifbarer zu machen. Aber es gibt keine Literatur dazu, ob diese Interessen an einer spezifischen Schulart besser aufgehoben werden. Es gibt ein Modell das sich „RIASEC“ nennt und die Interessenorientierung beschreibt: Es bildet verschiedene Interessen ab: Realistisch (körperlich aktiv), Investigativ (Denker, Forscher), Artistic (Künstlerisch), Sozial (verantwortungsbewusst, hilft gern anderen), Enterprising (Unternehmer, Führungspersönlichkeit), Conventional (traditionell, Büroangestellte)

Und diese Typologie findet in den Schulen keine Anwendung?
Noch nicht, aber generell tut sich was. Ich hatte schon mehrmals mit den PISA-Studien derOECD zu tun. Da gibt es durchaus Entwicklungen. Die bisherigen Bereiche (zum Beispiel Lesekompetenz) sind zwar weiterhin wichtig, aber das Augenmerk wird immer mehr auch auf weitere Bereiche wie Kreativität und Innovation gelegt Da sieht man , dass in Deutschland– nicht auf eine Schulart bezogen, sondern auf das ganze Bildungssystem. In welcher Schule wird „Thinking out of the box“ gefördert? Zum Beispiel werden oftmals andere Rechenwege, obwohl sie zur selben Lösung führen, nicht gewertet.“
Ein Hauptteil meiner Doktorarbeit war zum Thema Kreativität. Das ist ja, was uns eigentlich weiterbringt: Denkstrukturen zu durchbrechen und Neues zu generieren. Das kommt erst langsam so ein bisschen auf den Lehrplan, aber in der Umsetzung an den Schulen sind wir noch weit davon entfernt, Kreativität zu unterrichten.