Kindern helfen – anstatt nur härtere Strafen zu fordern

Der Ruf nach Strafverschärfung alleine hilft den von sexuellem Missbrauch betroffenen Kindern wenig – sie brauchen „geeignete Hilfen und Unterstützungen, die ihnen gutes Leben trotz schlimmster Erfahrungen ermöglichen können, wenn Therapie, Pädagogik und Sozialpädagogik gemeinsam erfolgreich sind.“ Das ist das Fazit eines Thesenpapiers, mit dem der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderschutz-Experte Jörg Fegert für Angebote wirbt, die sich an den Bedürfnissen der Opfer orientieren.

Prof.Jörg Fegert
Foto: zg

Der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm plädiert in dem Thesenpapier dafür, von der verkürzten Argumentation abzurücken, die vor allem auf eine (scheinbare) Prävention durch Strafverschärfung abziele. Die Konzentration auf einige Skandalfälle führe in der politischen Diskussion zu einem falschen Fokus, weil zu leicht unterstellt werde, die betroffenen Kinder seien für ihr Leben geschädigt, man könne da ohnehin nichts mehr machen.

Der Professor will mit seinen Thesen den anderen Weg einschlagen: „Viele Betroffene berichten, wie sie in der Schule Unterstützung erfahren haben und wie wichtig es für sie war, einen Ort zu haben, wo sie erfolgreich sein konnten und anerkannt waren. Gesellschaftliche Teilhabe oder wie es häufig gesagt wird ‚einfach dazugehören‘ ist deshalb ein wichtiges Ziel in einer fürsorglichen Gesellschaft.“
Das Papier – entstanden in Vorbereitung eines Expertengesprächs mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) und dem unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig – enthält zehn Thesen und Forderungen, die auch an einen „verantwortungsvollen Staat“ appellieren:

These 1: Die gesetzlichen Grundlagen für den Kinderschutz sind eigentlich gut, ihre unzureichende Umsetzung ist das Problem

These 2: Kinderschutz ist Daueraufgabe. Um Entwicklungen erkennen zu können ist ein regelmäßiges Monitoring notwendig

These 3: In Kinderschutzfällen ist ein interdisziplinäres Vorgehen, vor allem bei der Risikoabschätzung, wichtig

These 4: Digitalisierung, Internetkriminalität und organisierter Kindesmissbrauch sind Charakteristika, die bei anderen Misshandlungsformen so nicht anzutreffen sind

These 5: Sexting unter Jugendlichen als ein getrenntes Phänomen beachten

These 6: Betroffene Kinder trotz laufender Strafverfahren stärken, Praxis der Glaubhaftigkeitsbegutachtung überdenken

These 7: Zugang zu Hilfsangeboten, Frühintervention und Therapie flächendeckend ermöglichen

These 8: Bei Maßnahmen wie Inobhutnahme und Fremdunterbringung sexuell missbrauchter Kinder und Jugendlicher ist Qualitätssicherung durch die Entwicklung individueller Schutzkonzepte notwendig

These 9: Spezifische Beratung stärken und „insoweit erfahrene Fachkräfte“ besser ausbilden, Beratungsangebote für Fachkräfte in den Heilberufen oder in der Schule verstetigen

These 10: Corona hat einen großen Schub für webbasierte Fortbildungen gebracht, diese Dynamik sollte man jetzt nutzen.

Das Thesenpapier ist hier abrufbar:
https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Downloads/Thesenpapier_Kinderschutz_Fegert_2020.pdf