Die Gratwanderung zwischen Fördern und Überfordern

Jakob ist 5 Jahre alt und geht seit 8 Wochen in den Fußballverein. Die ersten Male war er richtig von seinem Training begeistert. Inzwischen hat er gar keine Lust mehr und sitzt oft am Rand. Jetzt fragen mein Mann und ich uns: sollen wir es „durchziehen“, dass er regelmäßig geht oder sollen wir ihn wieder aufhören lassen? Wir wollen natürlich auf keinen Fall, dass er Dinge nur anfängt und bei Schwierigkeiten aufhört. Beim Musikgarten war er auch nur Zuschauer, dann wollte er nicht mehr hin.

Liebe Frau S.: Viele Eltern wollen ihre Kinder gut fördern. Inzwischen gibt es ein wirklich großes Angebot für Kinder, sei es Musikunterricht oder Sportverein, Malkurse oder Sprachentraining. Immer häufiger habe ich Eltern in der Beratung, die mit fast schlechtem Gewissen erzählen, dass ihr Kind nur wenige Male einen Kurs oder Verein besucht hat. Es klingt dann wie ein Versagen, wenn das Kind keine Freude an dem Angebot entwickelt.
Dabei gibt es offensichtlich Kinder, die keine Begeisterung an den zusätzlichen Angeboten haben. Und nach meinem Eindruck werden das immer mehr. Natürlich sind Bildungsangebote für Kinder oft passend und gut. Aber vielleicht gibt es Kinder, die einfach nur gerne nach der Kita oder der Schule zuhause sind.
Darf das denn sein? Ja, ich glaube schon. Kinder sind oft sehr verplant und verbringen viel Zeit in Kitas und Schulen. Meist sind sie mit anderen Kindern zusammen und ihre Zeit wird häufig von außen festgelegt: Stuhlkreis, Angebot, Aufräumzeit etc. Vielleicht brauchen Kinder zwischendurch einfach „nichts“: Zeit, sich zu langweilen, Zeit zu träumen, Zeit, sich selbst was auszudenken, Zeit, auf dem Sofa zu liegen oder Zeit, die kleine Schwester etwas zu ärgern.
Vor meiner Haustür sah ich vor einigen Tagen drei Viertklässler, die mit ihren alten Bobbycars die Straße herunterfuhren. Sie schienen viel Spaß mit diesem Rückgriff auf Kindergartenzeiten zu haben. Vielleicht war dieser Nachmittag für sie viel wichtiger als der Englischkurs oder die Klavierstunde.
Ihnen als Eltern wünsche ich einfach, dass Sie entspannt mit dem Thema umgehen. Passt für ihr Kind im Moment keine zusätzliche Aktivität, dann ist das einfach so. Auch wenn die Nachbarskinder vom Flöten zum Kinderturnen und zur Basketball-AG gefahren werden: Ihr eigenes Kind braucht gerade etwas Anderes. Deshalb ist ihr Kind nicht weniger begabt und Sie als Eltern nicht weniger engagiert.
Haben Sie den Eindruck, ihr Kind probiert alles aus und bleibt bei keiner Aktivität, können sie vorher eine Vereinbarung treffen: mindestens fünfmal gehen wir hin. Oft können sich Kinder übrigens auch gar nichts unter einem Fußballtraining vorstellen – woher sollen sie auch wissen, wie es dort abläuft. Dann ist es gut, es sich anzuschauen.
Manche Kinder scheinen mit dieser Art der Bildungsangebote oft auch schlichtweg überfordert, weil es nicht der Art des Lernens der Kinder entspricht. Kinder lernen letztlich im realen Leben, wenn ihre Gefühle angesprochen werden, und beim eigenen Tun. Laufen Kinder mit wachen Augen durch die Welt, erleben sie schon viel Spannendes. Kinder sehen kleine Wunder, wenn Schnecken durch die Gegend kriechen, Beeren im Garten reifen oder ein Traktor vorbeifährt. Nach dem Regen auf dem Spielplatz zu matschen, erfüllt Kinder oft sehr viel mehr als jedes Bildungsangebot.
Sie als Eltern brauchen Sicherheit und Selbstbewusstsein, wenn beim nächsten Kindergartenfest das Thema auf Kinderkurse kommt und Sie sagen: „Jakob matscht gerne stundenlang mit seinem Freund in unserer Sandkiste“, während andere Eltern vom Baseballverein oder dem Malkurs erzählen. Und vielleicht macht das Kindheit aus: Sandeln in der Sandkiste. Sie können sicher sein, die Zeit des Spielens in der Sandkiste ist schon bald vorbei – Fußball spielen kann ihr Sohn noch lange und den Englischkurs kann Jakob auch noch im Rentenalter besuchen.
Ich wünsche Ihnen viel Zeit und ungeplante Erfahrungen gemeinsam mit ihren Kindern.

Erziehungsberatung

Die Diplom-Psychologin Bettina Müller vom Kinderschutzbund Ulm/Neu-Ulm beantwortet in „Kinder in der Stadt“ gerne Ihre Fragen rund um die Erziehung, selbstverständlich ohne Namensnennung. Rufen Sie einfach in der Redaktion an: Telefon 0731/9774620.