Guter Umgang mit Trauer

Wenn ein Familienmitglied stirbt, sind die hinterbliebenen Erwachsenen doppelt gefordert. Sie müssen ihre eigene Trauer bewältigen und gleichzeitig unter völlig neuen Voraussetzungen die erschütterten Kinder angemessen betreuen. Aber was heißt schon „angemessen“ in einer solchen Situation? Darüber hat „KidS“-Redakteurin Almut Grote mit der Sozialpädagogin Angelika Bayer gesprochen. Angelika Bayer leitet das Lacrima-Zentrum für trauernde Kinder bei den Johannitern in Neu-Ulm.

Kinder trauern anders, heißt es. Wie trauern Kinder?
Nicht so sehr mit Worten wie Erwachsene. Viele Erwachsene haben das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Kinder drücken ihre Gefühle mehr durch ihr Tun aus: Spielen, malen, wie sie sich bewegen… Für Erwachsene ist Trauer oft wie ein riesiger Strom, der sie mitreißt, und dauert sehr lange an. Bei Kindern tritt die Trauer eher punktuell auf. Ein geläufiges Bild ist: Sie springen in die Trauer wie in eine Pfütze – und genauso schnell wieder heraus. Sie spielen ganz normal, und plötzlich fangen sie furchtbar an zu weinen, oder werden wütend, aggressiv – und dann schwenken sie wieder um, kehren zum Spiel zurück, als sei nichts gewesen. Das irritiert Erwachsene oft, vor allem wenn der Todesfall noch nicht so lange zurückliegt, wundern sie sich, warum das Kind jetzt lacht und spielt. Kinder haben etwas in ihrer Natur, dass sie den Schmerz dosieren. Wenn ein Kind den Schmerz zeigen konnte, fühlt es sich erleichtert und wendet sich deshalb wieder dem Spiel zu. Es kann aber auch sein, dass es spürt: Das ist mir jetzt zu viel, dann beschäftigt es sich mit einem anderen Thema und lenkt sich so selbst von seinem Schmerz ab.

Wie gehe ich als Erwachsener damit am besten um?
Der Impuls der Erwachsenen ist immer, zu trösten. Das darf man natürlich machen, sollte aber nicht versuchen, die Trauer wegzuschieben oder von ihr abzulenken. Richtig trösten heißt die Trauer annehmen und anerkennen, also zum Beispiel das Kind in den Arm nehmen und sagen: „Ja, du bist jetzt sehr, sehr traurig, dass der Papa gestorben ist.“ Natürlich soll man das Kind nicht mit seinen Gefühlen allein lassen, es gar schimpfen, weil es gerade ein „unerwünschtes Verhalten“ zeigt. Man soll sich dem Kind schon zuwenden, aber nicht sagen „Du musst doch nicht traurig sein“, denn für das Kind heißt dies nichts anderes als “Ich darf nicht traurig sein“. Wenn das Kind das öfters hört, wird es die Trauer nicht mehr zeigen. Aber sie arbeitet in ihm drin weiter, und das hat Konsequenzen.

Was für Konsequenzen?
Wann immer Kinder lernen, ihre Gefühle zu verdrängen, werden diese Gefühle sich später Bahn brechen, wenn man schon gar nicht mehr verstehen kann, warum das Kind ausgerechnet jetzt so heftig reagiert – womöglich so viel später, dass man es gar nicht mehr zuordnen kann. Heftige Ausbrüche „aus heiterem Himmel“ aber auch Depressionen haben oft damit zu tun, dass ein Kind im akuten Trauerfall die Gefühle nicht zulassen durfte oder konnte. Den Zusammenhang herzustellen, ist oft schwierig.
Ein Beispiel, bei dem der Zusammenhang recht deutlich zutage trat, ist die Geschichte einer heute 50-jährigen Frau, deren Mutter starb, als sie neun Jahre alt war; drei Jahre später starb ihr Bruder an derselben Krankheit. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, auch in der Schule nicht. Als sie 40 war, starb ihr Vater. Da brach sie völlig zusammen, alles aus der Kindheit kam wieder hoch und sie begab sich in Therapie. Heute ist sie froh, dass sie in dieser Therapie endlich aufarbeiten konnte, was sie ihr Leben lang so unerklärlich belastet hatte.
Wie geht „richtig trauern“ als Erwachsener?

Von falscher Trauer würde ich nicht sprechen. Denn Menschen gehen ganz unterschiedlich mit ihrer Trauer um. Erwachsene werden meist vom Strom der Trauer mitgerissen. Andere wollen den Schmerz von Anfang an von sich fern halten, weil sie meinen, ihn nicht ertragen zu können. Die wirken sachlich, manche auch sarkastisch, um den Schmerz nicht an sich heranzulassen. Das kann die Verarbeitung erschweren.

Gut ist es immer, jemanden zu haben, dem man sich mitteilen kann, meist sind es Verwandte und Freunde. Als wohltuend wird von vielen der Besuch einer Trauergruppe empfunden, der Austausch mit Menschen, die gerade Ähnliches durchmachen.
Solche Gruppen gibt es ja bei verschiedenen sozialen Einrichtungen. „Lacrima“ bei den Johannitern ist meines Wissens in der Region die erste für Kinder.

Warum braucht ein Kind diese Gruppe?
Im Alltag steht das Kind ja mit seiner Trauer oft ziemlich allein da. Manche Kinder sprechen zu Hause kaum über den Tode des Vaters, um die Mutter zu schonen – manchmal auch, weil die Mutter selbst nicht darüber spricht. In der Klasse ist es meist das einzige Kind, dem das passiert ist. In der Schule zeigt das Kind deshalb seine Trauer nicht oder durch scheinbar unerklärliches Verhalten wie Aggression. Die Gruppenstunde durchbricht die Isolation. Hier lernt das Kind andere Kinder kennen, die auch gerade um einen nahen Angehörigen trauern, und erfährt: Ich bin gar nicht so alleine, wie ich dachte. Hier kann es seine Trauer zeigen – aber auch unbeschwert lachen. Auch das ist im Alltag nicht mehr selbstverständlich. Da kann es schon mal passieren, dass ein Mitschüler sagt: „Wie, du lachst? Wenn mein Papa gestorben wäre, würde ich nie mehr lachen!“

Viele Kinder sind im familiären Umfeld gut aufgefangen. Aber auch sie profitieren von der Gruppe, wir haben welche, die lassen zum Beispiel ihr geliebtes Fußballtraining alle zwei Wochen ausfallen, damit sie in die Gruppe kommen können.
Jeder trauert auf seine Weise. Wer die Möglichkeit dafür erhält, kann auch sehr schmerzhafte

Erlebnisse in sein Leben integrieren, ohne daran zu zerbrechen. Die Gruppe gibt jedem Kind Zeit und Raum dafür.

Wann ist der Besuch einer Trauergruppe angezeigt?
Was wir machen, ist keine Therapie. Trauer ist ja nichts Pathologisches, das ist ganz wichtig! Trauer ist ganz normal und eine sinnvolle Einrichtung der Natur, um einen Verlust zu verkraften. Dabei unterstützt die Gruppe.
Es kann natürlich auch zu einem komplizierten Trauerverlauf kommen. Ein gewisses regressives Verhalten nach dem Tod eines nahestehenden Menschen ist zum Beispiel erstmal ganz normal, also dass das Kind plötzlich wieder einnässt, Daumen lutscht, nur noch in Mamas Bett schlafen will oder nicht allein bleiben kann. Wenn das aber über viele Monate unverändert stark bleibt, könnte es sinnvoll sein, bei einem Therapeuten anzufragen. Manche Kinder in unserer Gruppe machen beides: Therapie und Lacrima-Gruppe. In der Gruppe geht es jedoch um die ganz „normale“ Trauer.

Was kann die Gruppe bewirken?
Im besten Fall bewirkt sie, dass die Kinder den Schicksalsschlag in ihr Leben integrieren können. Die Trauer wird nicht ganz weggehen, tritt aber ein bisschen in den Hintergrund. Die Kinder lernen, mit Selbstverständlichkeit damit umzugehen. So ein Schlag ist ja eine schwere Erschütterung, die viele Kinder stark verunsichert. Wir merken unseren Kindern an, wie sie zunehmend wieder an Sicherheit gewinnen, selbstbewusster werden und sich wieder mehr zutrauen. Weil sie ihre Trauer mit anderen teilen, die ähnliche Erfahrungen haben, und sie in den Gruppenstunden Zeit und Raum finden, um ihre Trauer zu leben.

Wie lange dauert das?
Zu Ende ist die Trauer nie. Sie verändert sich aber stark. Es wird immer diese Momente geben, wo man sich dem Verstorbenen sehr nahe fühlt, wo Emotionen hochkommen. Aber sie sind nicht mehr so vereinnahmend, dass sie mich im Alltag blockieren oder ich oft die Fassung verliere.
Die Kinder kommen so lange in die Gruppe, wie sie das Gefühl haben, dass sie sie brauchen. Im Durchschnitt sind es zwei bis drei Jahre. Wenn sie sie nicht mehr brauchen, sagen sie es uns, und dann gibt es in der Gruppe einen gemeinsamen Abschied.

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