Kirsten Boje: Lest mehr! Lest vor! Lest Literatur!

Schon lange engagiert sich Kirsten Boje für die Leseförderung. Mit der Hamburger Erklärung „Jedes Kind muss lesen lernen“, die sie 2018 initiiert hat, sorgte die Kinderbuchautorin auch auf den politischen Bühnen für Aufsehen. Zu ihrem 70. Geburtstag am 19. März ist nun die Streitschrift „Das Lesen und ich“ erschienen, in der sich Kirsten Boje voll und ganz dem Thema Lesen verschrieben hat. Die Autorin erzählt darin, wie sie selbst als Kind das Lesen entdeckte, wie sich ihr neue Welten eröffneten und wie immens die gesellschaftliche Bedeutung des Lesens für die Gegenwart und unsere gemeinsame Zukunft ist. Ein Interview mit der Autorin:

Die drei wichtigsten Argumente fürs Lesen sind…

Kirsten Boie: 1. Es macht Freude, es bietet Trost und Hoffnung, es gibt Anlässe zum Lachen (und Weinen). – 2. Es erlaubt den Ausstieg aus dem Alltag und Distanz dazu – Barack Obama hat immer wieder betont, wie wichtig ihm genau deswegen während seiner Präsidentschaft das Lesen von Literatur gewesen sei. – 3. Es steigert nachweislich die Empathie. – 4. Es zwingt mich immer wieder, mich mit meinen eigenen Überzeugungen auseinanderzusetzen, bisweilen bringt es sie sogar ins Wanken. Damit ist es wichtig für die Demokratie.

Was leistet Literatur, was andere Medien nicht leisten?

Kirsten Boie: Da Literatur mir anders als der Film und andere Medien (außer Rundfunk und Hörbuch) keine Bilder liefert, muss ich Bilder und Gefühle aus meinem eigenen Gedächtnis, aus meinem Erinnerungsspeicher heraufbeschwören: Damit ist ein Buch eben niemals nur das Buch des Autors, sondern ebenso des Lesers, durch den es erst vollständig wird. Und das bedeutet auch, dass ich mich als Leser bei jeder Lektüre unbewusst mit meinen eigenen Erfahrungen auseinandersetze – weshalb das Lesen immer auch therapeutische Qualitäten hat.

Haben Sie einen Tipp für die Politik, eine Handlungsempfehlung mit der sie das Lesen effektiv fördern könnten?

Kirsten Boie: Den EINEN Tipp kann es nicht geben. Das Lesen beginnt lange vor der Schule. Wir brauchen viel mehr Sprachförderung, wir brauchen Elternarbeit (Vorlesen!), wir brauchen viel mehr und viel besser qualifizierte und bezahlte ErzieherInnen an den Kitas, wir brauchen mehr Studienplätze für Grundschullehrer und eine bessere Qualifizierung zum Thema Lesenlernen im Studium, wir brauchen an den Schulen mehr Unterrichtszeit zur Vermittlung der Lesefähigkeit und den Einsatz längst bekannter, aber immer noch selten genutzter Methoden, die sehr viele – die meisten? – Lehrer ohne eigene Schuld gar nicht kennen. Und wir brauchen an den Schulen mehr Zeit, auch Lesefreude zu vermitteln!

Was empfehlen Sie für eine private Vorlesesituation?

Kirsten Boie: Wo das möglich ist: Ganz viel Nähe! Und Bücher, die vor allem den Kindern Spaß machen – wobei es natürlich toll ist, wenn auch die erwachsenen Vorleser dabei ihren Spaß haben, das merken die Kinder ja sehr deutlich. Und die Grundregel ist: Das Kind gibt die Richtung vor. Wenn es dasselbe Buch zehnmal vorgelesen haben möchte, hat es einen – ihm selbst oft vielleicht nicht mal bewussten – Grund dafür, und dann muss der Vorleser da durch! Und wenn ein Kind unterbricht und erstmal über etwas reden muss: Unbedingt! Nur so lernen Kinder, dass die Bücher für sie da sind.

Der Möwenweg wird dieses Jahr zwanzig Jahre alt! Inwieweit sind Reihen für die Leseförderung wichtig?

Kirsten Boie: Kinder lieben Verlässlichkeit, sie freuen sich, wenn sie Orte und Charaktere wiedererkennen, und unbewusst registrieren sie auch, dass es in dieser Reihe immer um eine bestimmte Art vom Thema oder Handlungsmuster geht, in einer anderen um eine andere. Reihen verfestigen Muster auf eine gute Weise: Kinder lernen eine Dramaturgie kennen, die sie dann immer wieder erwarten, und das ist eine wichtige Voraussetzung für den Spaß an Geschichten: Dass ich etwas vorausahne, dass ich mit einer Erwartung lese, die dann zunächst aber auch nicht enttäuscht werden darf.

Das Interview führte Carina Fricke.